Proust (207)
von Bert
Über die Stellung des Baron de Charlus im kleinen Kreis: Man war »also zu dem Schluß gelangt, Monsieur de Charlus sei ungeachtet seines Lasters (oder was man gemeinhin so nennt) inetelligent« (4.651) und wenn er nicht mitfahren kann, vermisst man »diese merkwürdig angemalte, dickwanstige und mysteriöse Persönlichkeit« (ebd.). Seine Homosexualität ist kein Geheimnis und solange keine Frau anwesend ist, spricht er sogar in Ansätzen darüber – vermeidet aber Morel zu nennen. Wenn er nicht dabei ist, werden sie aber eh in einem Atemzug genannt was bei einer Hälfte der Gesellschaft zu folgender Erkenntnis führt: »Wieso kannst du denken, Mémé sein in mich verliebt? Du vergißt wohl, daß ich eine Frau bin!« (4.661)
Wie sehr erstaunt aber wäre Monsieur de Charlus gewesen, wenn er eines Tages, als Morel und er sich verspätet hatten und nicht mit dem Zug angekommen waren, die Patronne [Madame Verdurin] hätte sagen hören: »Wir warten nur noch auf die Fräuleins!« Der Baron wäre um so verblüffter gewesen, als er sich kaum noch von La Raspelière fortrührte, die Rolle des Schloßkaplans, des obligaten Abbés, spielte und manchmal (wenn Morel achtundvierzig Stunden Urlaub hatte) zwei Nächte hintereinander dort blieb. Madame Verdurin gab ihnen dann zwei Zimmer mit Verbindungstür; damit sie sich in keiner Weise genierten, sagte sie zudem: »Wenn Sie Lust haben, Musik zu machen, so tun Sie sich keinen Zwang an, die Mauern sind dick wie die einer Festung, auf Ihrer Etage ist niemand sonst, und mein Mann schläft wie ein Murmeltier.« (4.654)
ist homosexualität eines der themen?
Es schwingt seit Band II permanent als ein Art Grundrauschen mit, aber nie wirklich explizit. ‚Geshickt‘ wie Proust ist, drückt er das Thema auch eher Albertine auf, die ja diverse Freundinnen hat. (Siehe nächster Band.)
Unter lit.historischem Gesichtspunkt ist Proust aber mit dem Thema extrem früh dran. Man darf nicht vergessen, dass er schon zu seiner Zeit gelesen wurde und das Thema Homosex. echt ein Tabu war. Was das Schöne im Grunde ist. Alle Figuren in seinem Werk haben einen Spleen – und manche sind eben schwul. Für ihn echt kein Aufregerthema sondern für die Zeit bewundernswerte Normalität.
na, dann habe ich ja wirklich etwas verstanden. danke. homosexualität hat es ja zu allen zeiten gegeben, die stigmatisierung muss im laufe der geschichte erst passiert, wohl vorzugsweise durch religion. nur so als gedanke.
das war über die jahrhunderte eine interessante wellenbewegung. aber es hat sehr lange gedauert, bis es in der weltliteratur angekommen ist – und zwar dann nicht negativ konnotiert.
ja, manches dauert und nicht alles bleibt.
Ungeachtet seines Lasters intelligent – 😂😂😂
Ist doch ein Hammer, der Satz, oder? Das mag ich so an Proust. Der braucht manchmal nur einen einzigen Satz um eine ganze Verhaltensweise nahezu abschließend zu beschreiben.
Wahnsinn!
Nächstes Jahr gebe ich ein Proust-Essen mit den für mich wichtigsten Sätzen … das nur mal so als Info nebenbei.
:)